Friseuse

Die einzige Freiheit, die man mir zu Hause gelassen hat, war: Ich durfte mir aussuchen, mit welchem Gegenstand ich geschlagen wurde: mit dem Teppichklopfer, mit der Hundepeitsche oder mit bloßen Händen. Es glaubt mir kein Mensch, wenn ich sage. dass ich zu Hause nur geschlagen wurde, wegen der geringsten Sache bekam ich Prügel: Wenn ich beim Essen kleckerte, wenn ich nicht gleich die Augen zugemacht habe im Bett, wenn ich fünf Minuten später nach Hause gekommen bin, wenn ich auch nur eine Drei im Zeugnis brachte, abgetretene Absätze hatte, eine Laufma­sche... ich kann das alles schon nicht mehr aufzählen. Es verging kaum ein Tag, wo ich nicht wenigstens zwei Ohrfeigen gelangt bekam, und so alle vier Wochen wurde ich regelrecht verprügelt, das war manchmal so schlimm, dass ich oft ein oder zwei Tage von der Schule wegbleiben musste, mein Vater oder meine Mutter oder beide zusammen hatten mich grün und blau geschlagen.
Anita Kolbe ist  24 Jahre alt, 1948 in Arnsberg im Sauerland geboren, sic arbeitet in Arnsberg in einem Damen- und Herrenfriseursalon, sie hat bei Berufswettkämpfen drei erste Preise gewonnen, sie verdient 8oo Mark netto, sie ist verheiratet und lebt von ihrem Mann getrennt, sic bewohnt in einem Neubau eine Mansardenwohnung, zweieinhalb Zimmer mit Bad.
Ich war schon auf der Welt, bevor meine Eltern heirateten, mein Vater war früher bei der Müllabfuhr, er hat sich hoch­gearbeitet und sitzt jetzt als kleiner Beamter in der Stadt­verwaltung, bearbeitet die Hundesteuer, die ganze Stadt hier besteht nur aus Beamten, ist Regierungssitz. Wo man hintritt, nur Beamte, und alles katholisch. Ich habe noch Geschwister, einen Bruder von  14 Jahren, der geht zum Gymnasium, und eine Schwester von 18 Jahren, die ist auf einem Büro in Meschede. Ich kann mich nicht erinnern, dass die beiden jemals eine Ohrfeige bekommen hätten. Immer bekam ich die Schläge, auch wenn meine Geschwister was ausgefressen hatten und nicht ich. Ich war die Älteste, ich hätte aufpassen müssen. Heute kann ich nicht mehr sagen, wie ich das die Jahre hindurch ausgehalten habe. Wo soll man denn schon hin in so einer Kleinstadt, wo einer den andern kennt, wo der Vater nur einen Gedanken hat: Beamter werden. Ich drehe mich heute um auf der Straße, wenn ich meinen Vater oder meine Mutter kommen sehe, ich kann es nicht sagen, wie ich die beiden hasse. Ich wundere mich manchmal, dass ich sie noch nicht umgebracht habe. Ich kann es nur zu gut verstehen, wenn ich in der Zeitung lese, Sohn oder Tochter hat Vater oder Mutter umgebracht. Ich kann es verstehen. Ich würde die alle frei­sprechen.
Mit 17 lernte Anita Kolbe, eine geborene Grundler, ihren Mann kennen, sie war im dritten Lehrjahr, und der damals 25 Jahre alte Edwin Kolbe hat sie gleich am ersten Abend entjungfert, und nach acht Wochen stellte sic mit Schrecken fest,dass sie schwanger war. Das war die Zeit, wo sie von ihren Eltern am meisten Prügel erhielt, weil sie jeden Tag zu spät nach Hause kam. Von der Schwangerschaft hat sie ihren Eltern nichts erzählt, sie bat Edwin, dass er sic heirate, der ging auch unter der Bedingung darauf ein, dass sie sich das Kind abtreiben lasse.
Was sollte ich machen. Ich hatte furchtbare Angst vor einer Abtreibung, ich hatte viel darüber gelesen, und dann, in so einem Friseursalon gibt es in einer Stunde mehr Klatsch, als in zwanzig Illustrierten in einer Woche zusammen. Was da den ganzen Tag erzählt wird. Nach zwei Jahren kannte ich die Familienverhältnisse der bekanntesten Leute in der Stadt. Edwin hat mich eines Tages nach Essen gefahren zu einer Frau, die hat die Abtreibung vorgenommen. Es war schrecklich, nie wieder, ich war vierzehn Tage krank, aber es hat geklappt. Später hat mir Edwin erzählt, dass er der Frau in Essen dafür hat 500 Mark zahlen müssen. Schönes Stück Geld. Dann kam die Überraschung: Nie hatte ich für möglich gehalten, dass meine Eltern ihr Einverständnis zur Heirat geben würden, aber sic gaben doch ihre Einwilligung. Die waren richtig erleichtert, als ich ihnen sagte, dass ich heiraten möchte. Die waren von Edwin ganz weg, für sie war er der beste Mann, den sie für mich wünschten. Er wird dich schon klein kriegen. sagte meine Mutter. Das hätte mir zu denken geben sollen. Aber später weiß man alles besser.
Edwin Kolbe arbeitete zu der Zeit als Kellner in einem bekannten Speiselokal in Soest, er verdiente bis zu 2000 Mark im Monat, einschließlich der Trinkgelder. Als Anita Kolbe ihre Lehre zu Ende gebracht hatte, wechselte sie den Salon, nach der Heirat zog sie nach Soest. Sic fanden ein Zimmer und Anita schnell eine Arbeit. Es ging ihnen gut, sie kauften sich einen neuen VW. Nur mit der Freizeit kamen sic nicht klar. Hatte der Mann Dienst im Lokal, besonders an den Abenden, wo es am meisten zu verdienen gab oder an den Sonntagen, saß sie zu Hause. Hatte sie am Montag frei, musste er arbeiten, hatte er frei, musste sie arbeiten. Beide hatten einen Beruf, der ihnen kaum gemein­same Freizeit ermöglichte. Wenn Edwins Gaststätte am Montag geschlossen gehabt hätte, wie die Friseure, dann wäre alles leichter gewesen. Einige Bitten Edwins, ihm mon­tags frei zu geben, wurden von dem Pächter der Gaststätte abgelehnt, und er gab ihm zu verstehen, er könne sich eine .andere Arbeitsstelle suchen, die am Montag Ruhetag hat. Das aber wollte er nicht, denn er verdiente weit über Durchschnitt.
Gott, wenn man mit 18 Jahren heiratet, was hat man da nicht für Vorstellungen. Da ist man verliebt, da möchte man zusammen den ganzen Tag im Bett liegen. Und bei mir kam hinzu, dass ich froh war, von zu Hause weg zu sein, keine Schläge mehr, keine brummigen Gesichter, nicht mehr die Schadenfreude der Geschwister, wenn ich eine gelangt bekam. Das erste Jahr für mich war wie ein ständiger Urlaub, auch wenn ich mit Edwin wenig genug zusammen sein konnte, wenn wir aber doch zusammen waren, dann haben wir es genossen. Wir haben es getrieben, wo wir gerade waren. Wardas eine Zeit. Warum soll man das nicht sagen, ich war ausgehungert, ich wollte satt werden. Kochen konnte ich nicht, das war nicht schlimm, Edwin bekam sein Essen im Lokal. Ich konnte überhaupt nichts, nur frisieren, das aber gut. Die meisten Frauen wollten nur von mir frisiert werden. Wenn eine in den Salon kam, fragte sic sofort: Ist Frau Kolbe frei? Ich bekam auch bald hundert Mark mehr im Monat von meinem Chef, und nach zwei weiteren Monaten wieder hundert Mark, aber dann wusste ich, dass die Aufbesserung weniger auf mein Können zurückzuführen war: Eines Tages langte er mir unter den Rock, als niemand im Salon war. Ich habe ihn geohrfeigt. Zum nächsten Letzten hat er mir gekündigt.
Anita erzäh1te ihrem Mann, dass ihr die Arbeitsstelle nicht mehr passe, sie werde zu sehr ausgenützt. Sie wollte ihm die wahren Gründe nicht sagen. In einer Kleinstadt wie Soest wollte sie den Arbeitsplatz nicht wechseln. Sic pausierte ein Vierteljahr und suchte in Arnsberg eine größere Wohnung, fand die, die sie heute bewohnt, und trat dann wieder in den Salon ein, in dem sie gelernt hatte. Ihr Mann fuhr jeden Tag mit dem Wagen nach Soest zur Arbeit. Im Salon waren sie froh, sie wieder zu haben, denn die Innungszeitung hatte davon berichtet, dass sie erste Siegerin im Modellfrisieren in Köln geworden war. Das hob ihren Marktwert, und der Besitzer des Salons hängte ihre Urkunde im Damensalon auf, damit sic jeder sehen konnte.
Natürlich war ich ein wenig stolz, ich habe den Preis damals genommen, als hätte ich einen dicken Scheck bekommen, in unserer Lokalzeitung stand ein großer Artikel darüber und ein Bild von mir war auch dabei, und auf einmal kam meine Mutter mit ihrem Zuckergesicht, und wer sie nicht kannte, der konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch gleich die Peit­sche in die Hand nehmen könnte. Ich habe sie einfach raus­geschmissen, habe ihr gesagt, dass ich sie nie mehr sehen will. Mein Gott, das Geschrei und Gekeife der Frau auf der Treppe, aber meine Vermieter wussten Bescheid, sie sagten ihr, sic solle nicht so durch die Gegend brüllen, und der Hauswirt hat ihr dann Hausverbot gegeben. Das war gut, ich war endlich vor ihr sicher. Beruflich lief damals alles gut. Aber mit Edwin stimmte es plötzlich nicht mehr, er kam immer unregelmäßiger nach Hause, und wenn ich ihn zur Rede stellte, dann sagte er nur, das viel zu tun wäre in der Gaststätte, die Saison habe angefangen, da kommen nicht mehr die Stammgäste allein, da kommen jetzt immer mehr Fremde nach Soest. Ich habe es geglaubt, bis mir eine Frau im Salon erzählte, sie habe Edwin mit einem Mädchen in einem Wagen auf einem Waldweg bei Wickede gesehen in unzweideutiger Situation. Ich wollte es einfach nicht glau­ben, weil ich die Klatschsucht der Frauen im Salon kenne, die intimsten Dinge werden da erzählt und oft mit viel Gehässigkeit. Vierzehn Tage habe ich gewartet, dann erst habe ich ihn zur Rede gestellt, weil er weiterhin unregel­mäßig nach Hause kam, immer erst gegen Morgen, wenn ich schon bald wieder aufstehen musste. Er gab mir keine Antwort, er fiel einfach über mich her, er hat mich so furchtbar verprügelt, dass ich dachte, er will mich fertig­machen. Mein Vater und meine Mutter waren da noch zärt­lich. Er hat auf mich eingeschlagen und dabei immer gekeucht: Du Hure, du Saustück, du verdammtes Luder, du Dreckstück.
Drei Wochen musste Anita krankfeiern, sie hatte verschwol­lene Augen, Prellungen, Blutergüsse. Ihr Mann war von dem Tag an nicht mehr in die Wohnung zurückgekehrt, er blieb in Soest, nach einem halben Jahr hat er sich wieder gemel­det, er bot ihr die Scheidung an, aber sic lehnte ab, sie wollte damals noch, dass er zurückkommt. Dann wartete er eines Tages vor dem Salon auf sie mit einem Mädchen, das er als seine Braut vorstellte, er bat Anita, dass er mit in die Wohnung dürfe, um seine restlichen Sachen abzuholen.
Dagegen war nichts einzuwenden, ich sagte zu, schon deshalb, weil ich auf das Mädchen neugierig war. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr, kaum waren die beiden in der Wohnung, da riss Edwin dem Mädchen buchstäblich die Kleider vom Leib, und ehe ich überhaupt begriff, was vorgeht, da lagen die beiden im Wohnzimmer auf dem Teppich und trieben es miteinander, und ich wusste nicht, soll ich schreien, soll ich hinsehen oder nicht. Ich bin einfach weggelaufen, ich saß unten in der Wohnung bei den Hausleuten und habe geheult und habe ihnen alles erzählt. Da ging der Mann die Treppe hoch. Nach ein paar Minuten hörten wir ein furchtbares Gepolter, ich sprang auf und lief in den Flur. Der Hauswirt hatte die beiden einfach die Treppe runtergeworfen. Als ich beide mit ihren nackten Ärschen im Flur vor meinen Füßen liegen sah, da musste ich lachen. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Zeit überstanden hätte, wären die Hausleute nicht gewesen, die haben sich rührend um mich gesorgt. Nach ein paar Tagen schickte ich die restlichen Sachen meines Mannes an seine Soester Adresse. Mein Hauswirt ließ andere Schlösser an den Türen anbringen, weil Edwin seine Schlüssel nicht abgegeben hatte. Seit dem Tage habe ich Ruhe vor ihm, ich war damals gerade zwanzig Jahre alt. Das Kapitel ist abgeschlossen.
Anita Kolbe blieb in der Wohnung, für die sie 116 Mark bezahlen muss, 48 Quadratmeter, relativ billig in so einer Beamtenstadt. Sie heizt ihre Wohnung mit elektrischen Speichergeräten, in ihrer Freizeit liest sie viel, sie kaufte sich einen Citroen 2 CV und einen Plattenspieler, sie hört beim Lesen Musik, leichte klassische, sie hat keine feste Freundin, sie lädt sich manchmal jemanden nach Hause ein, für Sonntag oder Montag, wenn sie frei hat, dann gibt es Kaffee und Gebäck, nicht viel Aufwand, sie wird von ihren Kollegen beneidet, weil sie es aus eigener Kraft geschafft hat, zu leben, mit ihrem Geld auszukommen, niemandem Rechenschaft geben zu müssen.
Man kann sich das Leben allein ganz gut einrichten, auch wenn man so jung ist wie ich, und wenn man es so gehabt hat, wie ich es zu Hause gehabt habe, vielleicht deshalb. Meine Schwester schaut manchmal rein, auch mein Bruder, wenn er am Montag von der Schule nach Hause geht, sie beneiden mich, aber ich weigere mich strikt, wieder nach Hause zu kommen, auch nicht für einen Fünfminutenbe­such. Auch das Kapitel ist abgeschlossen. Ich will keine Reden hören, ich höre im Salon genug, es ist zum Auswachsen, was man da zu hören bekommt, im Frauensalon ist es am schlimmsten, ich wollte es nicht glauben, dachte, es wäre ein Vorurteil, aber Frauen können ihre Schnauze nicht halten. Wie die über ihre Männer herziehen, und zu Hause sind sie wahrscheinlich das schnurrende Kätzchen. Wenn die Männer wüssten, wie über sie gesprochen wird: Geiler Bock, Versager, Schlappschwanz, das sind noch die harmlosesten Ausdrücke, die genieren sich überhaupt nicht, ob ich zuhöre oder nicht, meistens fangen die erst zu erzählen an, wenn sie sicher sind, dass ich auch zuhöre.
Im Jahre 70 und 71 holte sich Anita Kolbe zwei weitere erste Preise im Modellfrisieren, und es wurde ihr nahegelegt, die Meisterprüfung abzulegen. Sie zögert. Nicht wegen der zusätzlichen Ausbildungszeit und der damit verbundenen Opfer. Wenn sie in einem Fremdbetrieb Meisterin ist, bekommt sie auch nicht viel mehr Lohn, und einen eigenen Salon aufmachen, dafür müsste sie Kredit aufnehmen, was sie nicht will, denn gerade das Friseurgeschäft ist zu sehr von der Mode abhängig.
In der Stadt hier haben im vergangenen Jahr zwei Friseure geschlossen. Verständlich. Die jungen Leute lassen sich ihre Haare wachsen, gehen höchstens zweimal im Jahr zum Friseur, die jungen Mädchen schneiden sich gegenseitig die Haare, was bleibt, sind die Beamten und ihre Frauen und die Arbeiter von einem bestimmten Alter an, die sich lange Haare im Betrieb nicht leisten können, und die Heimwelle hat auch viele Kundschaft abgezogen. Oder aber, die Leute kommen nicht mehr so oft, auch verständlich. Ein bisschen an den Haaren rumputzen, waschen, legen, da sind die Leute schon 20 Mark los. Wer kann das schon, entweder Wohlhabende, aber die können es sich auch leisten, sich die Haare wachsen zu lassen, oder solche, die lieber nichts fres­sen, nur damit der Kopf geschniegelt aussieht. Es gibt viele Beamtenfrauen, die leben über ihre Verhältnisse, weil sie meinen, dass sie immer proper aussehen müssten, um damit vielleicht die Beförderung des Mannes zu beschleunigen. Je weniger Figur die Frauen haben, je weniger sie nach einer Persönlichkeit aussehen, desto öfter laufen sie zum Friseur, als ob die Frisur von einer unansehnlichen Figur ablenken könnte, ich habe noch nie erlebt, dass sich die Leute im Salon über was Vernünftiges unterhalten haben, nur über Haus­halt, über Mode, Frisur, Urlaub, den letzten Mord und über neue Autos und vor allem, über die Wichtigkeit der Stellung ihrer Männer. Ich bin bei den Jusos, ich brauche das, ich brauche junge Menschen um mich, die auch mal was anderes erzählen, nicht nur den täglichen Aufwasch, ich bin auch aktiv bei den Jusos. Da gibt es nicht wenige in dem schwarzen Nest hier, die nennen mich die rote Anita. So ein Quatsch. Wenn sich einer hier politisch betätigt, mal Flugblätter verteilt, auf Versammlungen fragt, dann hat er gleich einen roten Stempel. In dem Beamtenkaff hier ist alles rot, was nicht schwarz ist.
Im Salon ihres Arbeitgebers hat sie absolute Autorität. Wenn sie einer Frau rät, sich die Haare so oder so schneiden und legen zu lassen, dann nehmen das die Frauen ohne Überlegung an. Sie hat Geschmack, und sie ist bekannt, weil sie drei Preise geholt hat. Der Besitzer hat in den beiden letzten Jahren, seit Anita Kolbe bei ihm ist, immer mehr Kundenzulauf. Jetzt kommen auch junge Mädchen in den Salon, um sich von ihr beraten zu lassen, wie sie die Haare tragen sollen, damit sie zum Typ passen.
8oo Mark ist in der Branche gut bezahlt, aber ich habe meinem Chef schon zu verstehen gegeben, dass ich in einer Großstadt mindestens tausend Mark verdienen kann. Er druckst dann rum, er weiß nicht so recht, ob ich das ernst meine oder nicht. ich bin überzeugt, dass er mir bald tausend Mark geben wird, er weiß, was er an mir hat, ich wäre dumm, wenn ich das nicht ausnützte. Er will verdienen, ich auch. Ja, das Sexuelle ist schon ein Problem. Ich bin jung, ich bin nicht zum Verzichten geboren. Ich gehe schon mal mit einem Jungen auf dessen Bude, bleibe die halbe Nacht, manchmal auch bis zum Morgen, wenn es schön ist, meistens sind es welche aus unserer Jusogruppe. Was ist schon dabei. Ich weiß, dass sie hinter meinem Rücken flüstern: Die ist zu haben, die Anita ist kein Kostverächter. Ich versteh das nicht, denn niemand macht dem andern einen Vorwurf, wenn er ab und zu ein Schnitzel isst und das immer woan­ders. Aber ich nehme nicht jeden, er muss mir schon sympa­thisch sein. Manchmal hält so etwas ein paar Wochen, manchmal war es nur ein Nachtausflug.
Sie will allein bleiben. Nach einem Vater, der sie siebzehn Jahre lang ohne ersichtliche Gründe schlug, und einem Mann, der sie verprügelte und sie in der eigenen Wohnung mit einer anderen betrog, will sie jetzt ihr Leben so leben, wie sie glaubt, dass es richtig ist: Für sich leben und arbeiten, sich politisch betätigen, frei sein von Bindungen aller Art, über sich selbst und die freie Zeit bestimmen können. Aber sie hat Kummer mit ihren Beinen, sie sucht jeden Monat einmal den Arzt auf, sie befürchtet, Krampfadern zu bekommen, denn ihr Beruf zwingt sie, den ganzen Tag zu stehen.
Meine Beine, das weiß ich, sind das Beste an mir. Da muss ich aufpassen, denn die Beine sind das wichtigste in meinem Beruff. Wer nicht mehr stehen kann, der kann auch den Beruf nicht mehr ausüben. Ich nehme Medikamente, so was gibt es heute schon, zur Vorbeugung. Und doch denke ich mit Schrecken daran, wenn ich vielleicht mit dreißig nicht mehr stehen kann, dann müsste ich mich für eine sitzende Arbeit entscheiden, ich habe mir das schon mal überlegt. In das Büro der Partei — eswurde mirauch schon angeboten, aber was verdiene ich da. Ich schiebe die Entscheidung vor mir her. Noch spüre ich meine Beine nicht, und wenn ich mal Haare mit chemischen Mitteln behandeln muss, trage ich Gummihandschuhe. Man weiß ja nie, was die Firmen so anbieten. Der Chef nimmt alles, wenn es Werbepackungen sind. Die kosten kein Geld. Mancher Kunde muss bezahlen, was der Chef umsonst bekommen hat. Der Chef stöhnt über die vielen Steuern. Das mag ja stimmen, aber er hat auch eine Goldgrube mit seinem Salon. Er fährt einen Mercedes und hat sich vor einem Jahr ein Haus gebaut, oben am Arnsberger Wald, da sind die Grundstücke bestimmt nicht die billigsten. Ich konnte mir nur einen Plattenspieler kaufen und einen 2 CV. Jeden Monat kaufe ich mir eine LP und zwei, drei Taschenbücher. In meine Wohnung muss ich ja auch ab und zu was kaufen, Geschirr, Gläser, Möbelstücke, und dann muss man als Friseuse gut gekleidet gehen, das gehört einfach zum Beruf. Der Chef drückt mir ab und zu einen blauen Schein in die Hand, damit ich mir neue Kleider kaufe, das darf die Chefin nicht wissen, die ist hinter dem Pfennig her wie der Teufel hinter der Seele. Mir sagt sie ja nichts, aber die anderen Mädchen hetzt sie ganz schön rum, besonders die Lehrmädchen. Dafür hetze ich die Mädchen auf, dass sie sich nicht alles gefallen lassen, aber das sind doch dumme Puten, die haben nur Männer im Kopf, Feier­abend, Kino, Diskothek, in der Ecke stehen, knutschen, die wissen doch nicht mal, dass der Barzel von der CDU ist und der Brandt von der SPD, falls sie die beiden überhaupt kennen, die lesen Sexy und Quick und Lore-Romane und abends sehen sie Fernsehen, wenn so eine Heulboje jault. Am liebsten würden die mit Udo Jürgens ins Bett gehen.
Sie sollte zur Delegierten gewählt werden für den Juso-Kongress in Oberhausen. Sie lehnte ab, ihr fehlt dafür die nötige Zeit, ihren Urlaub kann sie nicht anreißen. Es kann niemand wundern, dass bei diesen Kongressen Schüler, Studenten und Angestellte, die einen großzügigen Chef haben, die überwiegende Mehrheit bilden. Arbeiter werden selten von ihren Arbeitgebern dafür beurlaubt.
Bei unseren Versammlungen oder Zusammenkünften habe ich mich dauernd mit den höheren Schülern und mit den Studenten von der Ingenieurschule in der Wolle, die reden manchmal einen Stuss zusammen. Habe manchmal den Eindruck, die leben ganz woanders, wenn sie mit ihren Ansichten und Forderungen kommen. Die Forderungen mögen ja stimmen, aber wie soll man sie durchsetzen, wenn man den primitivsten Alltag nicht kennt. Ja, ich gebe zu, dass ich erst dann zu lesen angefangen habe, als ich zu den Jusos kam, weil ich da bald merkte, dass da eine Sprache gesprochen wird, die ich bis dahin nicht gesprochen habe. Dann habe ich mir ein kleines Fremdwörterbuch gekauft, und wenn einer gesprochen hat, auch jetzt, wenn einer spricht, dann schlage ich das Buch immer heimlich auf, damit ich nach lesen kann, was das Wort auf deutsch heißt. Ich habe richtiggehend Fremdwörter gelernt, wie Kinder in der Schule Vokabeln einer anderen Sprache lernen müssen. Das ist mir gar nicht so leicht gefallen, ich verwechsle auch heute noch manchmal gleichklingende Wörter. ich hätte den Fatzkes paar in die Fresse hauen können, als sie mich früher in aller Öffentlichkeit berichtigten, wenn sie dazwischen riefen: Es heißt Opponent und nicht Opportunist, liebe Genos­sin Anita. Dann lief ich nach der Versammlung nach Hause und sprach die beiden Wörter vor mich hin, bis ich sie richtig aussprach und bis ich wusste, was sie bedeuteten.
Anita Kolbe gehört zu den vielen tausend jungen Arbeitern, die durch ihre politische Betätigung mit einer Sprache in Berührung gekommen sind, die weder im Elternhaus gesprochen, noch in der Volksschule erlernt wird; was sie trennt von denen, die im Elternhaus diese Sprache sprechen oder später auf höheren Schulen und Universitäten lernen, ist nicht die gemeinsam verstandene Sache oder aber Ideologie, das ist einzig und allein die Sprache. Viele junge Arbeiter springen wieder ab, weil sie an der Sprache der anderen verzweifeln oder aber an der Herablassung derer, die diese Sprache beherrschen. Auch Anita Kolbe hatte diese Schwierigkeiten, auch sie verzweifelte oft.
Ich habe mich durchgebissen, ich sagte mir, was die können, das kannst du schon lange. Da habe ich zu büffeln angefan­gen. Manchmal brauchte ich Tage, um so eine Parteibro­schüre zu lesen oder eine Seite von den Büchern, die ich mir jetzt kaufe, ich musste immer wieder im Wörterbuch nach­schlagen, was das und das heißt und was es bedeutet. Ich habe jetzt gegen die Hochnäsigen eine andere Waffe, ich halte ihnen einfach vor, ob sie schon mal gearbeitet haben und was sie tun werden, wenn sie einmal arbeiten müssen. Die haben von den einfachsten Dingen keine Ahnung. Jetzt ist es schon so, dass sie sagen: Fragen wir mal Anita. Man kriegt die ganz schön kirre, wenn man ihnen vorhält, dass sie auch nicht mit einem Haufen Wissen auf die Welt gekommen sind. Dann frotzeln sie noch was, aber sie stecken zurück. Es macht sich ja keiner einen Begriff, was es heißt, acht Klassen Volksschule, zu Hause die Hölle, ganz jung geheiratet und im Salon auch keinen Nachhilfeunterricht, nur das widerliche Gequatsche der Frauen, die nicht ausge­füllt sind. Da muss man was tun, da muss man auf viel verzichten. Ich habe keinen politischen Ehrgeiz, aber ich weiß, dass es so nicht bleiben kann, wie es ist. Das merkt man in der Großstadt vielleicht nicht so, das merkt man hier in dem Beamtennest, das so schwarz ist, dass immer noch der Pfarrer das Sagen hat, wo man jeden Sonntag in die Kirche läuft, wo man sich bemerkbar macht, damit der andere einen ja nicht übersieht. Wenn ich diese Heuchelei sehe. Meine Eltern, die knieten und beteten in der Kirche und riefen den lieben Gott für was weiß ich zum Zeugen an, und dann verdroschen sie mich zu Hause, und dann kamen Worte wie Hölle und Teufel. Bleib mir einer mit der Kirche vom Hals, das ist nicht der Tempel Gottes, das ist der Tempel, wo man lernt, mit zwei Zungen zu reden. Ich bin ausgetreten an dem Tag, an dem ich bei den Jusos eintrat.
Ihr Chef wird manchmal von Kunden darauf angesprochen, dass seine beste Kraft die rote Anita genannt wird, aber er lügt den Kunden was vor und sagt: Aber in der Kirche ist sie. Wenngleich er es besser wissen müsste, weil er ihr ja keine Kirchensteuer abzieht. Er fürchtet aber, wenn es bekannt wird, dass Anita nicht mehr in der Kirche ist, Kunden zu verlieren, vielleicht noch die besten. Er legt dann immer seineHände auf die Brust und beteuert: Sie kennen mich. Wenn ich das sage, dann stimmt es. Die Kunden glauben ihmnicht und kommen trotzdem.
Meine Hausleute wählen CDU, das weiß ich, das betont der Mann immer. Er weiß auch, dass ich bei den Jusos bin, er sagt, das interessiere ihn nicht. Er sagt: Sie sind ein anständiges Mädchen, und die Politik wollen wir raushalten. Abends laden sie mich manchmal zum Fernsehen ein, zu einem eigenen Apparat habe ich es noch nicht gebracht, dann diskutieren wir manchmal. Da ist es dann so, dass bei einer politischen Sendung eben die CDU immer recht hat für ihn. und ganz egal, was gesagt wird, der Willy Brandt hat immer unrecht. Ich habe es jetzt aufgegeben, ich sage nichts mehr, ich wundere mich nur manchmal, wie Leute schon mit einer Meinung geboren werden und im Laufe ihres Lebens nie unsicher werden, ob das und das wirklich richtig ist. Für meine Hausleute ist alles richtig, was von der CDU und was vom Pastor kommt. Das macht das Leben in so einer Kleinstadt so unerträglich. Mein Hauswirt geht kegeln, er ist im Schützenverein, und er hat seinen Stammtisch, so läuft das bei denen, da machen sie sich gegenseitig was vor, und trotzdem schauen sie geil hinter einem kurzen Rock her, und ich merke doch, wenn ich die Treppe hochsteige, wie er unten stehenbleibt und wie ihm die Augen aus dem Kopf fallen.
Aber Anita Kolbe hat es bei den Vermietern verhältnismäßig gut getroffen, sie lassen sie allein. Ihr weniger Besuch wird nicht beanstandet, auch wenn er Lammfellmäntel trägt, die Männer in langen Haaren kommen und modischen Schmuck um den Hals, die Frauen um die Stirn ein Indianerband.
Ich hätte es schwieriger haben können, bei anderen Vermietern läge ich vielleicht schon auf der Straße. Mein Hauswirt ist irgend so ein halbhohes Tier an der Regierung. Kinder haben sie nicht, die Frau sitzt stundenlang beim Friseur.
Vor einem Vierteljahr hat sich Anitas Mann wieder gemeldet, aus Duisburg, er ist dort in einem Hotel Oberkellner, er besteht auf der Scheidung. Jetzt ist sie dazu bereit, denn weder die Ehe noch die Trennung haben ihr irgendwelche Vorteile gebracht, außer, dass sie in Lohnsteuerklasse zwei ist.
Wenn ich geschieden bin, dann werden vielleicht ein paar hinter mir her sein, so paar Graumelierte, die scharf auf mich sind, die geilen Böcke, eine andere hätte wahrschein­lich schon ja gesagt, für viele Mädchen ist das die Lösung der Zukunft, gutes Auskommen, und für das Bett sucht man sich was Jüngeres. Nichts für mich, ich habe meine Freiheit, das ist mehr wert als alles andere. Vielleicht sollten Frauen überhaupt nicht heiraten, wenn sie vorher doch schon wissen, dass die Männer über sie herrschen werden. Neulich traf ich meine Mutter auf der Straße, ich konnte ihr nicht mehr ausweichen, die stierte mich an und sagte: Kürzer kannst du wohl nicht mehr gehen. Doch, sagte ich und zog meinen kurzen Rock über den Hintern hoch, so dass sie meine Schlüpfer gesehen hat. Na, die hat vielleicht reagiert, die ist bald in Ohnmacht gefallen, und dabei würde das Miststück lieber heute als morgen mit einem jungen Bengel ins Bett steigen.
Anita fährt seit ihrer Trennung jedes Jahr mit ihrem Wagen in Urlaub, an die See, in die bayrischen Alpen. Manchmal legt sie es auf Abenteuer an, manchmal wird sie von den Abenteuern eingeholt.
Die Männer sind ja dämlich, da braucht man nur mit dem Hintern zu wackeln, dann fangen die schon zu zittern an. Und wie ich mit meinem Hintern wackle. Einfach ein Genuß.wenn man sieht, wie die dann zu schwitzen anfangen.Sogar einen vom Bundestag habe ich da mal rumge­kriegt, der hat auch Urlaub gemacht in Greinau, den Kerl hatte ich so weit, der lag dann eines Nachts vor meinem Bett auf denKnien und hat gejammert und mir gesagt, er würde meinetwegen die Partei wechseln, wenn er nur zu mir ins Bett dürfe. Ja, das gibt es, ich wollte es nicht glauben, und dann hört und liest man, dass da einige aus Gewissens­gründen die Partei wechseln, muss ich nur lachen, die haben wahrscheinlich ihr Gewissen zwischen den Beinen oder auf einem Bankkonto. Eigenartigerweise bin ich nach dem Urlaub wieder froh, wenn ich in die Stadt zurückkehren kann. Komisch, obwohl mich die Stadt ankotzt.
Anita Kolbe, in Arnsberg die rote Anita genannt. Könnerin in ihrem Fach, lebt das Leben einer jungen Frau, die von der Ehe enttäuscht wurde und im Beruf ihre Sicherheit gefunden hat. Sie nimmt sexuelle Dinge hin wie Apfelkuchenessen oder ein-neues-Kleid-kaufen, sie ist eine Schönheit, aufregend und reizvoll. Sie weiß, dass einige Leute sie fürchten: nicht ihrer politischen Betätigung wegen, sondern weil ihr im Salon manche Intimitäten zugetragen werden.
Die wissen das, und trotzdem quatschen sie munter drauf los. Ich habe manchmal wirklich zu tun, mir das Lachen zu verbeißen, die sind ja so dumm, die sagen: Frau Kolbe, das erzähle ich nur Ihnen, ich weiß, dass Sie verschwiegen sind. Ich bin ja auch verschwiegen. Was wäre wenn? Wenn ich was sagen sollte, diese Gesellschaft hängt zusammen wie Pech und Schwefel, eine zusammengevögelte Gesellschaft ist das. Da habe ich meine Erfahrungen. Die laufen jeden Sonntag in den Tempel und singen Halleluja und sind ehrenwerte Leute. Ich habe meinen Spaß dabei, vielleicht ziehe ich deshalb in keine Großstadt, weil ich an die Klatscherei hier gewöhnt bin, weil man die Leute alle kennt, über die gequatscht wird, und da kann man selber sein bisschen Gift noch verspritzen.
Anita Kolbe hat sich eine gewisse Macht geschaffen, als kleine Friseuse in einer Beamtenstadt, vielleicht eben nur in einer Beamtenstadt. Es gibt einige, die steigen ihr unverhohlen nach, sie spielt mit ihnen, sie hat sich eine Freiheit erkämpft, die einer Narrenfreiheit gleichkommt. Sie kann tragen, was sie will, auch das Ausgefallenste, die Frauen finden es schick. Andere würde man auslachen. Sie kann sich das leisten.
Ich habe doch meinen Spaß bei der Sache, es ist schon so weit, dass mich das Scheißvolk am Sonntag zum Essen einlädt. Ich werde mich hüten, da hinzugehen, auch wenn ich vor Neugierde platze. In den letzten Jahren haben hier immer mehr SPD gewählt, vielleicht ist das auch ein bisschen mein Verdienst, vielleicht, weil die Frauen mich mögen oder fürchten. Ich bins zufrieden. Ich habe zu Hause nur die Freiheit gehabt zu wählen zwischen Teppichklopfer, Hunde­peitsche und bloßen Händen. Das vergisst man nicht. Es gibt etliche in der Stadt, die küssen mir die Hand. Ich lass sie mir küssen,  aber irgendwann einmal beiße ich zu.

                     
Max von der Grün Menschen in Deutschland (BRD)